2023 ein Jahr wie 6 - oder warum IT-Jahre sind wie Hundejahre sind

2023 war das Jahr der großen Ansagen: Auf nahezu jeder Vendor-Konferenz, in jedem Whitepaper und auf jeder Bühne tönte es unisono und voller arrogantem Selbstbewusstsein:
„OnPrem ist tot – Cloud ist die neue Normalität!“
Microsoft stellte Copilot vor und schwang den KI-Zauberstab über Office 365, Broadcom kündigte die Übernahme von VMware an, Apple setzte mit dem Vision Pro einen neuen Fixpunkt für die Post-Smartphone-Ära. Gleichzeitig starteten EU und Mitgliedsstaaten Initiativen für ein „Cloud-Edge-Continuum“ mit offenen Schnittstellen.
Kurz: Legacy raus, Cloud rein, KI und Spatial Computing oben drauf – und bitte alles in Echtzeit. Ein perfektes Jahr also, um darüber zu sprechen, warum IT-Jahre in Hundejahren gemessen werden sollten – und warum man mit drei Cloud-Migrationen, vier „Next Big Things“ und fünf EU-Förderprogrammen innerhalb von 18 Monaten plötzlich aussieht wie ein Veteran aus der Altsteinzeit.
Man sagt, ein Jahr in der IT zählt wie sechs normale Jahre. Wer wie ich seit 2011 in derselben Firma arbeitet, ist also streng genommen schon ein Veteran mit 72 Dienstjahren. Herzlichen Glückwunsch zum goldenen Lötkolben!
In der IT altern wir schneller – nicht nur optisch (Hallo Augenringe!), sondern auch technologisch:
- Ein Framework, das man vor drei Jahren stolz gelernt hat? Heute „Legacy“.
- Cloud-Lösungen, die 2020 noch „cutting edge“ waren? Jetzt „best practices“.
- Dein Lieblingstool von 2022? Inzwischen „deprecated“ oder „Enterprise Edition only“.
- Microsofts Lieblingspathos: „OnPrem = Alte Welt // Cloud = neue Welt“ (inklusive streng erzieherischem Blick für alle Partner , die’s noch nicht kapiert haben oder nicht einsehen wollen).
- Apple mischt mit dem Vision Pro und visionOS Spatial Computing ins Spiel. Für alle, die sich gerade erst an Homeoffice und Videocalls gewöhnt hatten, bedeutet das: neue Devices, neue Plattform, neue Skills – und noch ein Grund mehr, sich in IT-Hundejahren zu fühlen.
Digitale Souveränität & Open Source
2023 wurde klar: Souveränität endet nicht bei „Daten in Europa speichern“. Wahre digitale Souveränität bedeutet Kontrolle über Hardware, Software, Schnittstellen und Betriebsmodelle.
- Open Source als Rückgrat. Horizon Europe fördert mit Projekten wie Vitamin-V eine Open-Source-Architektur auf RISC-V-Basis, die uns von proprietären Hardware- und Cloud-Stacks unabhängiger machen soll.
- Cloud-Edge-Continuum. Mit dem IPCEI-CIS und ähnlichen Initiativen entsteht ein industrielles Gegengewicht zu Hyperscalern: offene Schnittstellen, interoperable Plattformen, Förderung lokaler Anbieter. Ambitioniert.
- „Public Money, Public Code“. Immer mehr Verwaltungen und Unternehmen erkennen, dass offene Software nicht nur ein Ideologie-, sondern ein Risikomanagement-Thema ist: Auditierbarkeit, langfristige Verfügbarkeit, Vermeidung von Lock-ins. Ob der Staat Konsequenz oder Opportunismus beweisen wird?
Wer 2023 Cloud einsetzt, muss sich fragen: Wie viel Kontrolle habe ich noch bzw. werde ich in Zukunft haben? Hyperscaler verkaufen offene Wölkchen, aber ohne Open Source bleibt es meist eine Blackbox mit geänderter Marketingfolie, man erinnere sich an das tolle Syndication-Modell in den Rechenzentren der T-Systems. Deshalb ist Open Source nicht nur der sympathische Underdog, sondern das Betriebssystem für unsere digitale Eigenständigkeit. Wer 2023 immer noch glaubte, Souveränität sei ein Nebenthema, hat den Film noch nicht zu Ende geschaut.
Während Normalsterbliche ihr Wohnzimmer einmal im Jahrzehnt renovieren, haben IT-Leute in derselben Zeit dreimal in Clouds migriert, zweimal wegen plötzlicher Kostenfallen wieder raus aus diesen, vier Architekturen umgekrempelt und fünf Programmiersprachen auswendig gelernt – plus die dazugehörigen Zertifikate.
Das Beste: Jede neue Technologie kommt mit der gleichen Marketingfloskel („Game Changer“, „Next Level“, „Revolution“) – und wir stürzen uns darauf wie Welpen auf frisches Futter. Bis die Version 2.0 kommt und alles wieder von vorn losgeht. Unser jährliches Sau-ums-Dorf-Treiben, oh Herr, gib uns heute.
Aber so frustrierend es auch sein mag: In diesem Tempo liegt auch Reiz. Wer weiss was das nächste Jahr bringt? Und allzu oft ist die Technologie zwar nicht DER Game-Changer aber dann doch ein Fundament für Fortschritt wie wir es uns vor 5 Jahren nicht zu träumen wagten. Wer in der IT arbeitet, lebt in Dog Years, sammelt aber auch Dog Years an Erfahrung. Mit jedem Bug ein graues Haar, mit jedem frischen ein bisschen mehr Gelassenheit.
Am Ende sind wir alle Veteranen – egal ob wir vor fünf Jahren angefangen haben oder vor fünfundzwanzig. In IT-Hundejahren sitzen wir längst mit COBOL-Opa, Linux-Tante und den Open-Source-Youngsters am Lagerfeuer und erzählen vom ersten Mal, als wir „sudo“ getippt haben. Oder ich damals ... wer weiss noch was das ist ... mit ...
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