Gaia-X und CISPE - Ideen, eigentlich zu schade zum Scheitern

Von hehren Zielen und realpolitischen Rückziehern
Es begann so hoffnungsvoll im Jahr 2019. GAIA-X sollte das europäische Leuchtturmprojekt für digitale Souveränität werden – ein Cloud-Ökosystem, das auf Offenheit, Interoperabilität und natürlich: Open Source basiert. Die Vision: Eine europäische Antwort auf AWS, Azure & Co. Ein gemeinsames Fundament für Vertrauen, Transparenz und Kontrolle in der Dateninfrastruktur. Souveränität first, Buzzwords später.
Auch CISPE – der „Cloud Infrastructure Services Providers in Europe“ – klang zunächst wie ein Bollwerk gegen die US-zentrierte Datenmacht. Eine Allianz europäischer Cloud-Anbieter, mit klaren Prinzipien: keine illegitime Datenweitergabe, Einhaltung der DSGVO, Förderung von Portabilität und Open-Source-Standards.
Doch wie so oft, wenn gute Absichten auf industrielle Realitäten treffen, wichen Ideale Prragmatismus. Oder nennen wir es Opportunismus.
GAIA-X heute: Wenn der Wolf Mitglied im Schafstall wird
Die große Ironie: Je größer GAIA-X wurde, desto kleiner wurde seine Glaubwürdigkeit. Mit über 370 Mitgliedern (Stand: Juli 2025) klingt die Zahl beeindruckend – bis man genauer hinsieht. Mit dabei: Microsoft, Alibaba, Huawei, Google Cloud, Amazon AWS, Oracle... und sogar Palatir. Palantir! Ja, richtig gelesen: Palantir!!! – das Datenunternehmen mit besten Verbindungen zum US-Verteidigungsministerium – als Mitgestalter europäischer Souveränität. Was könnte da schon schiefgehen?
Auch die Finanzierung ist bezeichnend: Die Initialförderung von 10 Millionen Euro aus deutschen und französischen Haushalten verblasst im Vergleich zu den Lobby-Budgets der eingeladenen Hyperscaler. Und während kleinere Anbieter mühsam Projektmittel beantragen, kaufen sich große Player bequem Einfluss über Gremien und Partnerschaften.
CISPE: Vom Souveränitätsbündnis zur B2B-Vorteilsgemeinschaft
Auch CISPE, gegründet 2016, war einst ein Hoffnungsträger. Man formulierte eigene Ethik-Charta, startete das „EU Cloud Code of Conduct“-Programm und positionierte sich als Verteidiger der europäischen Werte im Cloud-Geschäft.
Doch spätestens seit AWS im Jahr 2021 als Mitglied aufgenommen wurde – unter vielstimmigem Kopfschütteln der Community – ist CISPE mehr Lobbyverband als Wächter der Werte. Heute zählt der Verband über 20 große Mitglieder, darunter auch IONOS (DE), Aruba Cloud (IT), Scaleway (FR) – aber eben auch Amazon AWS. Ach ... und seit Januar 2025 auch Microsoft.
Die Gefahr: CISPE wird zur Plattform, auf der sich europäische Anbieter ihre Marktzugänge gegenseitig streitig machen – während die Hyperscaler das Spielfeld nach ihren Regeln mitgestalten.
Die übersehenen Helden: Mittelstand, ISVs und Nerd-Patrioten
In der öffentlichen Debatte gerne vergessen – aber essenziell für echte digitale Souveränität – sind die kleinen, unabhängigen Player. Hier einige Beispiele, die man in den Fokus rücken sollte:
- IONOS (Deutschland): Eine echte Alternative mit eigenem Stack und Datensouveränitätsanspruch. Trotz Konzernnähe zu United Internet noch immer ein Lichtblick.
- Infomaniak (Schweiz): Mit Servern ausschließlich in der Schweiz, Open-Source-Diensten (Mail, Kalender, Drive) und nachhaltigem Betrieb – ein Vorbild für echte Autarkie.
- Proton (Schweiz): Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für Mails, VPN und Kalender. Zero-Access-Versprechen. Zero Bullshit.
- Novastor (Hamburg): Backup-Lösungen für KMU mit On-Prem-Optionen und Fokus auf Datenschutz made in Germany.
- Tuxedo Computers (Augsburg): Linux-Hardware, vorkonfiguriert, leistungsfähig, herstellerunabhängig. Mehr digitaler Souverän geht kaum.
- Volla Phone (NRW): Smartphones mit Ubuntu Mobile oder Volla OS – ohne Google-Stack, dafür mit konsequentem Open-Source-Ansatz.
- Suse: Pionier der Linux-Welt, unter anderem mit Rancher im Container-Umfeld aktiv.
- Datagroup: Einer der führenden deutschen IT-Dienstleister mit Fokus auf IT-Outsourcing („CORBOX“) und starkem Engagement im öffentlichen Sektor.
- Wortmann: Bietet mit „Terra“ eine eigene Marke für Server, PCs und Cloud-Dienste – stark im Mittelstand verankert.
- Canonical: Anbieter von Ubuntu – weltweit verbreitet, auch in vielen Cloud-Umgebungen im Einsatz.
Diese Player repräsentieren keine Milliardenumsätze – aber dafür das, worum es eigentlich ging: Kontrolle, Transparenz, Offenheit, den steuerzahlenden Mittelstand in Deutschland. Sie zeigen: Man muss kein Gigant sein, um digitale Verantwortung zu leben.
Zahlen, Daten, Realitätssinn
- Umsätze der Hyperscaler (2024): AWS 100+ Mrd. USD, Microsoft Intelligent Cloud 88 Mrd. USD, Google Cloud 40 Mrd. USD.
- Umsatz Proton (2024 geschätzt): ~80 Mio. USD – das Marketingbudget von Azure, multipliziert mit Demut.
- CISPE: Sitz in Brüssel, laut Eigenangabe „Stimme von mehr als 20 Cloud-Infrastruktur-Unternehmen in Europa“. Praktisch: einige Mitglieder haben mittlerweile Standorte in den USA – wie die Stimme wohl klingt?
- GAIA-X Mitgliederstruktur (2025): Mehr als 50 % der Mitglieder haben keine direkte technische Produktintegration, sondern agieren als Berater, Verband oder Business Development-Einheit. Das hat nicht mehr viel mit technischer Souveränität zu tun, sondern mit Lobbyismus.
Fazit: Was zu tun ist
Wenn GAIA-X und CISPE nicht vollends in die Bedeutungslosigkeit abgleiten wollen, braucht es einen Neustart – oder wenigstens eine radikale Rückbesinnung:
- Klartext statt Kompromisslyrik: Keine Aufnahme von Akteuren, deren Geschäftsmodell auf Intransparenz, Lock-In und extraterritorialer Jurisdiktion basiert.
- Förderung kleiner Player: Statt 80 % der Fördertöpfe an 5 große Unternehmen zu verteilen, braucht es einen „Digitalen Mittelstands- und Open-Source-Fonds“.
- Re-Validierung der Mitgliedschaft: Mitglieder, die nicht glaubhaft zur digitalen Souveränität beitragen, sollten die Charta verlassen – oder zum Austritt bewegt werden.
- Transparente Gremienarbeit: Keine geschlossenen Türen, keine „Cloud Councils“ mit NDA – sondern nachvollziehbare Entscheidungen mit Community-Beteiligung.
Und wer sollte wirklich dazugehören?
Statt AWS, Microsoft oder Palantir braucht GAIA-X mehr:
- Tuxedo statt Oracle
- Infomaniak statt IBM
- Volla statt Google
- IONOS, Proton, Nextcloud, Univention, Open-Xchange, LibreOffice Foundation statt "beratender Innovationspartner mit Cloudexpertise aus Seattle"