Digitale Souveränität beginnt dort, wo Allianzen und Appeasement enden
Airbus, SAP, Capgemini, Forschung, Big Tech: Warum Allianzen keine Sicherheit bieten, Appeasement keine Strategie ist – und digitale Souveränität nur durch Unabhängigkeit entsteht.
Warum Größe, Allianzen und Wohlverhalten keine Strategie sind
Zwei Tage vor Heiligabend '25. Das Jahr ist praktisch durch, die Debatten eigentlich auch.
Ein Jahr voller spannender Entwicklungen. Bayern strauchelt vor dem Investor, Hannover ist aus Bequemlichkeit gefallen. Schleswig Holstein zeigt vorbildlich wie es geht, der Internationale Gerichtshof zieht mit, Frankreich migriert 1,2 Millionen Arbeitsplätze zu Nextcloud.
Eigentlich wollte ich vor Weihnachten nichts Digitalpolitisches mehr schreiben. Dann stolperte ich noch über einen Artikel der Frankfurter Rundschau "Trump droht EU mit neuen Sanktionen – SAP, Amadeus, Capgemini, Publicis als mögliche Ziele".
Also bleibt das Thema digitale Abhängigkeit bis in die letzten Tage hinein dominant. Oder präziser: der Irrglaube, man könne sich durch Größe, strategische Allianzen oder korrekt-devotes Benehmen dauerhaft vor geopolitischem Druck schützen.
Spoiler: Konnte man noch nie. Kann man heute auch nicht.
Letzten Freitag habe ich über das Beispiel Airbus geschrieben. Ja, unsere Airbus. Das europäische Musterprojekt. 70 Milliarden Euro Jahresumsatz. 160.000 Mitarbeiter. Airbus gilt als der europäische Industriegigant, politisch gut vernetzt, wirtschaftlich extrem relevant, systemisch immanent wichtig.
Und trotzdem zeigt die Realität: Airbus ist nicht too big to fail.
Nicht aus der Sicht von Plattformanbietern.
Nicht gegenüber geopolitischen Interessen.
Und schon gar nicht gegenüber Washington.
Das ist kein Airbus-Spezialfall.
Es ist ein Muster.
Als drei deutsche Forschungsriesen „zu klein“ waren
Eine alte Anekdote aus meiner Microsoft-Zeit, die erstaunlich aktuell ist
Vor gut fünfzehn Jahren (ich war damals im Bereich Forschung & Lehre bei Microsoft in Unterschleißheim tätig) gab es eine erst unscheinbare, später auch große juristische und sehr lehrreiche Auseinandersetzung zwischen Microsoft und den "großen Drei", den unbestrittenen Helden der deutschen Forschungsinstitutionen: der Max-Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft.
Der Auslöser war banal und brutal zugleich: Microsoft änderte einseitig langjährig bestehende Vertragsbedingungen. Alte Konditionen entfielen, neue Cloud-Modelle traten in Kraft. Kein Mehrwert für den Kunden, ganz im Gegenteil. Deutlich höhere Kosten, fast nur noch User- statt Geräte-Metriken, alles ohne echte Verhandlungsoption.
Für öffentlich finanzierte Forschungseinrichtungen explodierten die Kosten von einem Moment auf den anderen in schwindelerregende Höhen.
Microsoft Deutschland sah durchaus das Problem. Man war gesprächsbereit. Man wollte vermitteln. Kurz: Man verhielt sich tatsächlich wie ein lokaler Akteur, der langfristige Beziehungen auf Augenhöhe versteht.
Dann kam Redmond. Die "Corp".
Und wie immer in diesen Diskussionen wurde der Deutschland GmbH ihre konzerninterne internationale Bedeutungslosigkeit klargemacht.
Der damalige hypothetische Dialog
(inhaltlich aus der Erinnerung, strukturell leider realistisch)
Microsoft Deutschland:
„Wir haben hier ein echtes Problem. Drei zentrale deutsche Forschungsorganisationen. Öffentlich finanziert. Politisch hochsensibel. Wir brauchen Spielraum.“
Microsoft Corp., Redmond:
„Fraunhofer? Max Planck? Helmholtz? We don't know them.“
Microsoft Deutschland:
„Das sind mit die wichtigsten Forschungsinstitutionen Europas. Weltweit renommiert. Zusammen dutzende Nobelpreisträger.“
Microsoft Corp., Redmond:
„We don't care. We have the MIT. End of discussion"
Das war kein Missverständnis, kein schlechter Tag, kein unglückliches wording. Das war eine Machtdemonstration.
Subtext: Ihr Kunden seid alle ersetzbar. Wir nicht. Versucht es nur. Ihr kommt wieder...
Dieses 'Ihr kommt wieder' ist kein Bluff, sondern Kalkül. Es basiert auf dem asymmetrischen Lock-in: Wenn die IT-Infrastruktur erst einmal vergleichbar einem Nervensystem mit den Faszien mit den Prozessen einer Organisation verwoben ist, steigen die Wechselkosten ins Unermessliche. Microsoft wusste das damals (und weiß es heute um so besser).
Der Schmerz der regelmäßigen Preiserhöhung ist fast immer noch kleiner ist als der Schmerz einer Totaloperation am offenen IT-Herzen. Wer das Betriebssystem kontrolliert, diktiert die Regeln.
Egal, wie viele Nobelpreisträger im Gebäude sitzen.
Und noch kurz zur Einordnung der damaligen Argumentationslinie ein paar nüchterne Zahlen (Stand etwa Anfang/Mitte der 2010er Jahre ):
- MIT: rund 89 Nobelpreisträger
- Max-Planck-Gesellschaft: etwa 31 Nobelpreisträger
- Helmholtz-Gemeinschaft: 3 Nobelpreisträger
- Fraunhofer-Gesellschaft: 0 Nobelpreisträger
Ja, das MIT ist eine Ausnahmeerscheinung.
Aber genau darin lag die eigentliche Botschaft: Relevanz definiert sich aus Sicht der Plattformmacht, nicht aus europäischer Selbstwahrnehmung.
Wenn selbst diese Institutionen keinen echten Hebel hatten:
Wer dann?
Von Forschung zu Industrie: Airbus war nur der Anfang
Springen wir ins heute, ins Jahr 2025. Die Namen ändern sich, das Muster nicht.
Airbus. SAP. Amadeus. Capgemini. Publicis.
Europäische Schwergewichte, politisch relevant, wirtschaftlich mächtig.
Und trotzdem: nicht immun gegen Druck aus den USA.
Die aktuelle Tonlage aus Washington ist eindeutig. Drohungen, Sanktionen, „America First“ ohne jedwede rhetorische oder diplomatische Weichzeichner. Selbst Unternehmen, die sich selber als verlässliche Partner verstehen und anbieten, geraten ins Visier. Größe hilft da wenig. Nähe auch nicht.
Wir erleben ein Paradoxon: Während die europäischen Riesen versuchen, sich durch immer komplexere Allianzen Zeit zu kaufen, sind es oft die kleineren, agilen Akteure, die resilienter sind. Wer konsequent auf offene Standards und gar Open Source setzt, entzieht sich der Erpressbarkeit.
Souveränität ist kein Privileg der Großen.
Sie ist eine Entscheidung der Klugen und Weitsichtigen.
Manchmal ist es besser, unabhängig und 'klein' zu sein, als ein gefesselter Riese.
Delos: Wenn Anpassung als Souveränität verkauft wird
In meinem Artikel „SAP/Delos – das moralische Scheitern eines Hoffnungsträgers“ habe ich genau diesen Mechanismus analysiert. Delos wurde als souveräne Cloud-Antwort verkauft, als europäisches Gegengewicht, als strategische Lösung für Staat und Verwaltung.
Die Realität: juristisch deutsch, technisch abhängig.
Souverän im Marketing, BigTech kontrolliert im Unterbau.
Delos war trotz des immensen Potentials für uns alle leider nie echte Unabhängigkeit, sondern konsolidierte Abhängigkeit mit besserem Gewissen. Ein Konstrukt, das vor allem eines leisten sollte: politische Beruhigung, ohne strukturell etwas zu verändern.
Wer glaubt, strategische Allianzen, ob mit Hyperscalern, Plattformanbietern oder geopolitischen Machtzentren, böten dauerhaften Schutz, verwechselt Nähe mit Kontrolle. Delos war kein Ausrutscher, sondern eine Blaupause.
Oft wird diese Abhängigkeit mit Geschwindigkeit gerechtfertigt. "Wir müssen jetzt auf BigTech-Super-Duper-(A.I.)-Plattformen setzen, um den Anschluss nicht zu verpassen", heißt es dann.
Doch dieser Geschwindigkeitsvorteil ist nur geliehene Zeit.
Wir kaufen uns heute Bequemlichkeit mit dem Verlust der Handlungsfähigkeit morgen.
Wir tauschen langfristige Freiheit gegen ein kurzfristiges Time-to-Market.
Appeasement ist keine Strategie
Was wir derzeit bei vielen europäischen Akteuren beobachten, ist kein langfristiger Plan, sondern situative Anpassung. Man hofft, durch Wohlverhalten, Investitionszusagen, Symbolpolitik oder stille Korrekturen aus der Schusslinie zu bleiben.
Historisch nennt man das Appeasement.
Es funktioniert nur sehr sehr selten.
Wenn nur aus einer Position der Stärke.
Und wenn es scheitert, endet es im Chaos.
Die Forschungseinrichtungen damals konnten sich nicht freikaufen, Airbus sich nicht herausverhandeln. SAP konnte sich nicht neutralisieren. Sogenannte Einkaufsgenossenschaften sind von einem Tag auf den anderen incompliant. Und auch zukünftige Projekte werden daran scheitern, wenn sie auf demselben Denkfehler aufbauen.
Die eigentliche Lektion des Jahres
Digitale Souveränität ist kein moralisches Projekt.
Sie ist auch kein Anti-USA-Statement.
Sie ist Risikomanagement auf Architekturbasis.
Wer keine Alternativen aufbaut, kann nicht verhandeln.
Wer keine Exit-Strategien hat, akzeptiert fremde Entscheidungen.
Wer glaubt, „zu groß“ zu sein, hat das Spiel nicht verstanden.
Allianzen können sinnvoll sein. Partnerschaften auch.
Aber sie ersetzen keine Unabhängigkeit.
Kurz vor Weihnachten ist das keine besonders gemütliche Erkenntnis.
Aber eine notwendige.
Diese Unabhängigkeit gibt es nicht als Software-as-a-Service-Abo.
Man muss sie bauen.
Stein für Stein.
Codezeile für Codezeile.
Es ist anstrengend. Es ist teurer im Aufbau. Und es glänzt am Anfang weniger als die Keynotes aus dem Silicon Valley.
Aber es ist der einzige Weg, um an Heiligabend in fünf Jahren nicht wieder über die gleichen Abhängigkeiten klagen zu müssen.
Größe schützt nicht.
Haltung allein auch nicht.
Strukturelle Unabhängigkeit vielleicht schon.