SAP / Delos – das moralische Scheitern eines Hoffnungsträgers

Ein europäisches Leuchtturmprojekt wird zum Symbol bequemer Abhängigkeit: Warum die SAP-Delos-Cloud kein Verrat an der Technik, sondern an der Idee ist. Und warum noch Zeit bleibt, Haltung zu zeigen.

SAP / Delos – das moralische Scheitern eines Hoffnungsträgers

Es hätte das Leuchtturmprojekt der europäischen Cloud-Souveränität werden können. Stattdessen droht es, ein weiteres Symbol für den Verlust an Haltung zu werden – noch ist es jedoch nicht zu spät.


Der antike Mythos: Delos, die Insel des Lichts

In der griechischen Mythologie war Delos eine schwimmende, unsichtbare Insel bis Poseidon sie auf vier Säulen im Meer verankerte. Sie bot Leto Zuflucht als sie vor der eifersüchtigen Hera floh und gebar dort ihre Kinder Apollo und Artemis.
Aus dem Versteck wurde ein heiliger Ort: der Geburtsort des Lichts, der Vernunft und der Harmonie.

Delos war Zuflucht und Ursprung zugleich – ein Ort, an dem das Licht geboren wurde, nachdem die Dunkelheit nicht siegen konnte.

Fast 3.000 Jahre später griff SAP diesen Namen auf, als Symbol für ein neues Projekt:
Die Delos Cloud – Europas versprochene Wiedergeburt digitaler Selbstbestimmung. Ein Ort, an dem Klarheit und Kontrolle, Transparenz und Vertrauen wieder vereint sein sollten.

Ein schönes Bild. Leider zu schön, um wahr zu bleiben.


Der moderne Mythos: Fünf Männer, eine Idee

1972, in Weinheim, schrieben fünf ehemalige IBM-Ingenieure ein anderes Kapitel europäischer Technikgeschichte. Dietmar Hopp, Hasso Plattner, Klaus Tschira, Hans-Werner Hector und Claus Wellenreuther verließen IBM, um etwas zu bauen, das IBM für unmöglich hielt:
Standard-Software für Unternehmen, die in Echtzeit funktioniert.

Sie nannten ihre Firma SAPSysteme, Anwendungen, Produkte in der Datenverarbeitung. Fünf Männer mit Codezeilen und Rückgrat.

Sie glaubten fest daran , dass Europa Technologie nicht kaufen, sondern selbst erschaffen sollte. Leider ist niemand der Magic Five mehr im Amt.


Ethos, Verantwortung und Vertrauen

Walldorf stand für technologische Ethik, für Ingenieurskunst statt Investorenrhetorik und Shareholder Value.
ABAP war nie hip, aber verlässlich. SAP HANA war kein Buzzword, sondern eine wirkliche technologische Revolution.

Auch moralisch war SAP ein deutsches Vorbild: Engagement für Diversität, Inklusion und Verantwortung, lange bevor „DEI“ ein Jedermanns-Schlagwort wurde.

SAP war nicht nur ein Konzern, es war ein personifiziertes Versprechen der Gründer und Mitarbeiter, dass man Wirtschaft mit aufrechter Haltung verbinden kann.

Delos: Symbol und Konstruktionsfehler

Als SAP 2023 die Delos Cloud vorstellte, klang es wie die Wiederkehr dieses Ethos. Ein Leuchtturm für digitale Souveränität – betrieben in Deutschland, für Deutschland. Eine Cloud, die nicht verkauft, sondern vertraut.

Zielgruppe war der öffentlicher Sektor und kritische Infrastrukturen.
Bund, Länder, Kommunen sollten endlich eine Cloud-Lösung bekommen, die wahre Unabhängigkeit ermöglicht, nicht nur verspricht.

Doch schon in der Geburtsstunde war der Widerspruch eingebaut:
Delos basierte von Anfang an auf Microsoft Azure Technologie.

Ein potentieller Ort des Lichts, aber auf fremdem Fundament errichtet.

Bereits 2022 verkündeten SAP und Microsoft ihre Partnerschaft:

„Delos Cloud wird eine souveräne Cloud-Umgebung auf Basis von Microsoft Azure bereitstellen, betrieben von SAP.“

Technisch bedeutete das: Compute, Storage, Netzwerk, Security, alles Microsoft.
SAP kontrollierte soweit möglich lediglich Betrieb und Compliance, also die Fassade der Kontrolle, nicht die Kontrolle selbst.

Souverän war daran bestenfalls das Branding.


Die neue PR-Wahrheit

Gerade jetzt im November 2025 meldete sich Delos selbst zu Wort, um „Mythen um die digitale Souveränität“ zu entkräften. In einem LinkedIn-Statement schreibt das Unternehmen:

„Die Delos Cloud GmbH fällt nicht unter den US CLOUD Act. Wir sind ein deutsches Unternehmen mit Sitz in Deutschland. Wir bieten unsere Dienste ausschließlich in Deutschland an.“

Juristisch korrekt. Aber technisch absolut irrelevant.

Richtiggehend erschreckend finde ich, wie viele Plattformer und Söldner hier die Faktenlage verleugnen, man sieht dies daran wie heftig und irrational die Diskussion hier gerade geführt wird.

Der CLOUD Act fragt nicht nach Postleitzahl, sondern nach Kontrolle.
Und solange die technische Infrastruktur, die APIs und Hypervisor-Ebenen und vor allem die Softwarepflege, die intransparenten Updates, von Microsoft stammen, existiert ein potentieller Zugriffspfad, ob genutzt oder nicht.

Die juristische Souveränität mag in Walldorf liegen, die technische bleibt in Redmond.

💡
Die Stellungnahme des Innenministeriums Baden Würtemberg: "Gleichzeitig bleibt die Anwendungsebene Microsoft-Software, die nicht öffentlich zugänglich ist, deren Quellcode vom Hersteller kontrolliert wird (proprietäre Software) und als US-Software den Vorgaben des US Cloud Act unterliegt."

Hier bleibt eigentlich nicht viel hinzuzufügen. Delos wiederum schreibt weiter:

„Microsoft hat als reiner Technologiepartner keinen Zugriff auf Daten in der Delos Cloud.“

Das ist, als würde man sagen, der Architekt habe mit dem Haus nichts zu tun – solange er nicht klingelt.

Man kann eine Tür auditieren, aber wenn ein verstecktes Schlüsselbund in Redmond liegt, bleibt man Mieter, nicht Eigentümer. Souveränität endet dort, wo der Quellcode intransparent und proprietär wird.

Delos mag rechtlich unabhängig sein, aber technisch bleibt es eine Kolonie – fein zertifiziert, auf hohem vertraglichen Level geregelt und auditiert, aber sicher nicht frei.


🧾 Was ist der CLOUD Act?

Der CLOUD Act (Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act) erlaubt US-Behörden, auf Daten zuzugreifen, die von US-Unternehmen kontrolliert werden, auch wenn diese außerhalb der USA gespeichert sind.
Entscheidend ist also nicht der Speicherort, sondern die technische Kontrolle.


Wenn Prinzipien zur PR werden

Deutschland hat leider auch aktuelle Erfahrung mit moralischer Dissonanz. Die US-Tochter der Deutschen Telekom sponserte gerade einen Ballsaal im Weißen Haus von Donald Trump. Public Relations in farbenfrohem Magenta, während man daheim über Datenschutz sprach.

Heute wiederholt sich das Muster in Azur-Blau: Ethische Schein-Fassade, amerikanisches Fundament.

Wer so handelt, verwechselt Marktzugang mit Moral, sowie Verantwortung mit Bequemlichkeit.


Das moralische Scheitern

Moralisches Scheitern ist keine Katastrophe. Es ist eine opportunistische Entscheidung! Nicht, weil man nicht konnte, sondern weil man nicht wollte.

SAP entschied sich für Umsetzungs-Geschwindigkeit statt Substanz, für Markt-Sicherheit statt Selbstvertrauen, für US-Partnerschaft statt EU-Pioniergeist.

Technisches Scheitern ist für alle sichtbar. Moralisches geschieht leise. Jeden Tag. Und bleibt.


Europa im Spiegel von Delos

Delos ist kein Einzelfall. Es ist ein Spiegel. Für ein Europa, das gelernt hat, Abhängigkeit zu verwalten, statt Selbstbestimmung zu gestalten.

Wir nennen es Governance, Compliance, Kooperation.
Aber es ist dasselbe alte Muster, mit einem recht neuen Wort:

Souveränitäts-Washing.
Wir betreiben amerikanische Technologie, nur diesmal mit deutschem Logo.

Wir haben gelernt, souverän zu klingen (zu wollen), ohne es jedoch zu sein. Wie traurig das doch in vielerlei Hinsicht ist.


Noch ist Delos nicht verloren

Delos ist noch ein Entwurf. Und Entwürfe kann man ändern.

SAP kann den Kurs korrigieren. Zurück zu offenen Architekturen, Code und Prozessen, auditierbaren KI-Modellen, europäischen Partnern wie z.B. einer SUSE oder einer Mistral.AI. Zurück zu einer ursprünglichen Idee, die größer ist als nur "Market-Share".

Delos kann immer noch das werden, was es versprach, ein Ort, an dem Technologie auf Haltung trifft und nicht auf Gewohnheit. Und das darf durchaus idiologisch geprägt sein..


Mein Appell an Walldorf

Vielleicht ist jetzt der Moment, in dem SAP sich erinnert, wer es einmal war:
Ein Symbol europäischer Vernunft, Präzision und Verantwortung. Nicht Mitläufer, sondern ein Maßstab für viele von uns Anderen.

Europa braucht definitiv keine Managed US Clouds mit EU-Flagge. Es braucht Unternehmen, die zeigen, dass Haltung skalierbar ist.

Noch ist Delos nicht gescheitert. Aber die Zeit, Haltung zu zeigen, läuft, sie ist jetzt!

Und wer weiß, ich bin der ewige Optimist, vielleicht wird aus diesem moralischen Scheitern am Ende doch eine moralische Wiedergeburt.

Ich hoffe es. Aufrichtig. Für die Delos Cloud. Für SAP. Für uns alle.


Nachklang einer Debatte (Nachtrag, 09.11.2025)

Direkt nach der Veröffentlichung dieses Artikels habe ich viele kluge und differenzierte Rückmeldungen erhalten – speziell von Menschen, die SAPs Strategie aus nächster Nähe kennen.
Besonders der Hinweis auf Gardener, IPCEI CIS und die NeoNephos Foundation ist wichtig: SAP hat in den letzten Jahren tatsächlich sehr viel für technologische Offenheit, Portabilität und Wahlfreiheit getan.

Und genau das verdient Anerkennung. Mein Punkt zielt allerdings auf eine andere Ebene: auf die ethische und strategische Dimension.
Offenheit innerhalb eines Systems ist wertvoll, aber sie ersetzt nicht die Kontrolle über das System selbst.

SAP zeigt mit Projekten wie Gardener technische Souveränität, Delos dagegen (noch) strategische Abhängigkeit.

Und vielleicht liegt genau hier das europäische Paradox:
Wir beherrschen den Code, aber nicht die Cloud.

Wenn es SAP gelingt, diese Brücke zu schlagen, wäre das nicht nur die technische,
sondern auch die moralische Vollendung (m)eines Hoffnungsträgers.

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