Zwischen Souveränitäts-Gipfel und Parlamentarier-Microsoft-Brief: woke up, Europe?
Europa ringt um digitale Selbstbestimmung: Während in Berlin „Souveränität“ als Etikett für fortgesetzte Abhängigkeit genutzt wird, setzt der heutige Brandbrief aus Brüssel ein Zeichen: weg von Microsoft-Monopolen, hin zu echten europäischen Alternativen und technologischer Eigenständigkeit.
Im November prallen zwei Bilder aufeinander, einmal in Berlin der große „Summit on European Digital Sovereignty“ auf dem EUREF-Campus mit viel Pathos, viele Panels, viel „Partnership“-Rhetorik, kurz darauf in Brüssel ein Brandbrief von 38 Abgeordneten des Europäischen Parlaments, über den in Heise, Politico und Euractiv berichtet wurde, mit einer erstaunlich klaren Botschaft:
Runter von Microsoft 365. Hin zu europäischen Alternativen wie openDesk.
Beide Ereignisse kreisen um das gleiche Schlagwort: Digitale Souveränität.
In Wahrheit zeigen sie zwei völlig unterschiedliche Strategien:
Berlin: Souveränität als Marketingfolie, um Abhängigkeiten zu verwalten.
Brüssel: Souveränität als Handlungsauftrag, um Abhängigkeiten abzubauen.
Der Berliner Gipfel: Souveränität als Kulisse
Der „Summit on European Digital Sovereignty“ auf dem EUREF-Campus klang auf dem Papier nach Zeitenwende: Kanzler, Präsident, Kommissare, Minister, CEOs. 900 Leute, Panels, Keynotes, Logos, Lanyards. Was habe ich an Hoffnung auf diese Veranstaltung gesetzt.
Viele Reden über „strategische Autonomie“, „Resilienz“, „unseren europäischen Weg“. Wer nur die Bilder in den Nachrichten sah, könnte glauben: Europa macht sich frei.
Wer genau zuhört, merkt: hier wird nichts befreit – hier wird kosmetisch umetikettiert. Viel Souveränitätswashing vom Feinsten.
Das Produkt des Gipfels: der „Digital Omnibus“
Eine Regulierungsschleifmaschine, verpackt in Standortoptimismus. Heraus kommt ein Fels. Aber rundgeschliffen wie ein Isarkiesel.
- Der AI Act wird für Hochrisiko-Anwendungen verschoben. Offizielle Begründung: „Erst innovieren, dann regulieren.“ Die praktische Wirkung: Big Tech aus den USA schreibt die Regeln, bevor Europa rechtlich hinterherkommt. Das hatten wir bereits mit der 7-Jahres-Frist für Teams im September. In Wahrheit steht hier "Erst zementieren, dann als Marktstandard definieren".
- Die DSGVO wird „präzisiert“, mit einer enger gefassten Definition personenbezogener Daten und erweitertem „berechtigten Interesse“ für Training von KI-Modellen. Lesen wir das mal ohne PR-Weichspüler: europäische Bürger werden weiter als Gratis-Datenspender genutzt, das ganze ist doch ein Treppenwitz.
- Gleichzeitig werden Milliardeninvestitionen der Hyperscaler in europäische Rechenzentren als Vertrauenssignal gefeiert. Dass quasi die gesamte Wertschöpfungskette Richtung USA fließt, taucht höchstens im Kleingedruckten auf.
Die ehrliche Übersetzung:
Wir bleiben abhängig, nur nennen wir es jetzt eleganter und zahlen weiter. Und es wird jedes Jahr mehr.
Warum „Sovereign Cloud“ der Hyperscaler keine echte Souveränität ist
Das Hyperscaler-Vokabular klingt wie einmal durch die Marketing-Maschine gespülter Digital-Magen-Darm-Tee für Entscheidungsträger:
European Sovereign Cloud! Cloud for Sovereignty! Trusted Partner! Local Control!
Aber die Achillesferse ist politisch, juristisch, nicht technisch.
Solange Anbieter ihren Hauptsitz in den USA haben und US-Gesetzen wie CLOUD Act und FISA 702 unterliegen gilt immer Recht schlägt Branding.
Wenn ein US-Gericht Daten sehen will, bekommt es sie. Egal ob die Bits in Frankfurt, Dublin oder Helsinki liegen. Und ja man versuchen dem zu entgehen, indem man Verschlüsselungen einbaut, versucht zu tricksen um an diesem Anbieter festhalten zu können, aber stellen wir uns doch mal die Frage: "Warum zu Kuckuck sollten wir das denn tun?"
Dazu bleiben die genauso wesentlich harten Abhängigkeiten bestehen, wie poprietäre closed Stacks, die niemand auditieren kann, Preismodelle, die nach Belieben angepasst werden können (und werden), direkte und indirekte Egress Fees, die jedweden Exit ökonomisch sabotieren und von Jahr zu Jahr, von adaptierten Service zu Service, teurer werden.
Souveränität heißt: Ich als Kunde definiere die Bedingungen. Nicht: Ich vertraue darauf, dass der Anbieter nett bleibt.
Der Brandbrief aus Brüssel: der erste echte Gegenakzent
Die 38 Abgeordneten, die den Brief an Roberta Metsola (wer's nicht weiß, die derzeitige EU-Parlamentspräsidentin) unterzeichneten, haben erstmals auf europäischer Ebene ausgesprochen, was viele längst denken: Microsoft 365/Azure ist nicht nur ein Produkt, es ist ein strukturelles Abhängigkeitsverhältnis.
Die Forderungen lesen sich sportlich, weg von Microsoft 365, Richtung europäische Lösungen wie openDesk. Erstellung eines Exit-Plans. Anpassung der Beschaffungskriterien.
Das Bemerkenswerte ist nicht dass das gefordert wird, sondern wer es fordert:
- Liberale wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Helmut Brandstätter
- Konservative aus der EVP
- Sozialdemokraten
- Grüne
- Linke
Ein Rundumschlag des gesamten politischen Spektrums in der EU. Digitale Souveränität ist damit nicht mehr ein nerdiger Nischenaktivismus, sondern eine Kernkategorie europäischer Standort- und Sicherheitspolitik.
Habe ich schon erwähnt dass die oben genannten Punkte eigentlich auch für jeden verantwortungsbewussten CIO/CTO in Europa gelten sollten?
Warum der Brief gerade aus liberaler Sicht ein überfälliger Befreiungsschlag ist
Ich schreibe das hier nicht aus einer neutralen Beobachterhaltung heraus – ich bin selber FDP-Mitglied, und ja: ich feiere es lauthals, dass Marie-Agnes Strack-Zimmermann diesen Brief unterzeichnet hat. Sie steht wie kaum jemand sonst für sicherheitspolitische Klarheit, strategische Konsequenz, ja sie ist eine der "alten Garde" der Politiker mit Meinung und Kante. Und genau das brauchen wir (auch) im Digitalbereich: die Erkenntnis, dass digitale Infrastruktur längst sicherheitsrelevant ist, genauso wie Energie, Verkehr oder Verteidigung.
Für ein liberales Mindset ist dieser Brief kein Anti-Microsoft-Aktivismus, sondern die nüchterne Anwendung sauberer Marktlogik:
Ein echter Markt braucht Wettbewerb. Ein echter Wettbewerb braucht Wahlfreiheit. Wahlfreiheit braucht Alternativen, die essentielle #FreedomOfChoice.
Microsofts Dominanz im öffentlichen Sektor (und erst recht in der Wirtschaft) ist keine „nützliche Konvention“. Es ist ein faktischer Monopolzustand, der durch Lock-In-Mechanismen verteidigt wird.
Vendor Lock-in ist das absolute digitale Gegenteil von Marktwirtschaft. Es ist Stabilität und "fortschrittliche Technologie" durch selbst gewählte Abhängigkeit (siehe Stockholm-Syndrom). Und Abhängigkeit ist immer eine Einbahnstraße.
Dass Strack-Zimmermann hier mitgeht, ist ein Zeichen, das man richtig lesen muss:
Nicht „Europa gegen die USA“, sondern „Marktwirtschaft gegen Monopolstrukturen“.
openDesk als ernstzunehmende Option
Das Bild „Europa hat ja nichts“ stimmt schon lange nicht mehr.
openDesk ist eine ernsthafte Suite, wir haben Nextcloud, Open-Xchange, Collabora Office (seit letzter Woche auch offline auf dem Endgerät!), Matrix/Element, Jitsi/BBB, OpenTalk, OpenProject, Keycloak / Univention für Auth & Identity und so vieles mehr. Das Ganze koordiniert durch das ZenDiS, sehr erfolgreich getestet in Verwaltungen. Nicht perfekt, aber funktional. Nicht so glamourös und toll integriert wie Microsoft, aber unabhängig. Das wäre nach all den Jahren und den Milliarden, die Microsoft in der Vergangenheit in seine Marktposition investieren konnte auch utopisch.
Und der Schritt des Internationalen Strafgerichtshofs, des Bundeslandes Schleswig Holstein, der österreichischen Armee zeigt: es ist nicht romantischer Idealismus, sondern strategische Risikominimierung.
Was sich jetzt zeigt
Der Gipfel in Berlin steht leider zu einem großen Teil für Europas altes Souveränitätsprinzip: „wir machen weiter wie bisher, nur mit neuer Sprache und mehr PR-Korrektur“. Der Brief aus Brüssel dagegen steht für ein neues Prinzip: „wir alle meinen es wirklich ernst und beginnen den Ausstieg“. Digitale Souveränität ist keine romantische Fantasie.
Sie ist der nüchterne, liberale Satz:
„Niemand hat das Recht, den Markt auszuschalten.“
Nicht ein Staat. Nicht eine Partei. Und schon gar nicht ein privater Mega-Anbieter mit 30 Jahren Lock-in-Erfahrung der jetzt sowohl Unterstützung als auch Druck von einem karottenhaarigen alten Mann aus Washington bekommt.
Wenn Europa souverän werden will, dann nicht durch Abschottung. Sondern durch das Gegenteil: Forcierte Faktoren wie Offenheit, Interoperabilität, Wettbewerb und technologische Mobilität!
Ein persönlicher Zwischengedanke
Ich gebe zu: bei all der Debatte um Infrastruktur, Recht, Märkte und geopolitische Abhängigkeiten gibt es für mich eine sehr menschliche Seite an diesem Thema, die mir tatsächlich schmerzt.
Ich habe Freunde, Kollegen, Wegbegleiter, brillante Köpfe, die ich sehr schätze. Einer von ihnen, einer der intelligentesten Menschen die ich kenne, ein begnadeter Analytiker, rhetorisch brillant, hält all diese Souveränitätsüberlegungen immer wieder für „interessant“, aber unrealistisch. Für ihn ist Microsoft keine Abhängigkeit, sondern Ökosystem, Fachgebiet und Karriereplattform. Seine Fähigkeiten setzt er ein, um „mit und um Microsoft herum Geld zu verdienen“. Und darin ist er extrem gut.
Der Punkt ist: genau solche Menschen wären eigentlich die idealen Architekten eines unabhängigen europäischen Technologieraums. Kreativ, klug, lösungsorientiert, pragmatisch. Aber die Energie fließt in das Optimieren einer bestehenden Abhängigkeit, nicht in den Aufbau einer Alternative.
Manchmal frage ich mich, wie stark unsere Sache wäre, wenn nur fünf Prozent dieser klugen Leute ihre Talente nicht im Rahmen des Microsoft-Kosmos entfalten würden, sondern im Aufbau eines souveränen Technologie-Stacks.
Ich verurteile diese Menschen nicht, im Gegenteil. Ihr Pragmatismus, ihre Expertise, ihre Professionalität sind Teil des Problems, aber sie könnten genauso gut Teil der Lösung sein. Es ist die paradoxe Tragik der Gegenwart, die besten Köpfe für digitale Souveränität arbeiten für die Festigung ihrer Gegenseite.
Fazit
Es wirkt, als sei genau jetzt der Moment erreicht, in dem Europa entscheiden muss, welchem Pfad es folgt, sei es weiter kosmetische Souveränität ohne Substanz oder echter struktureller Umbau, weg von geschlossenen Systemen, weg von proprietärer Abhängigkeit.
Der Weg ist unbequem. Er ist teuer. Er ist komplex.
Aber der alternative Weg ist schlimmer, die freiwillige, schleichende Abgabe jeglicher digitalen Gestaltungsfreiheit.
Die Frage ist nicht mehr: „Ist das realistisch?“ Die Frage ist: „Ist das notwendig?“
Und die Antwort lautet: ja — schmerzhaft ja.